Reisebericht #1: Angeln am Miyato-Fluss/ 宮戸川長縄 Miyatogawa Nagawa

Von verschwundenen Flüssen und Städten, die an das wiegende Gras erinnern.

Am ersten Tag zurück in Japan wohne ich in einer kleinen Wohnung direkt unter dem Skytree im Stadtteil Asakusa. Der Skytree ist kein echter Baum. Asakusa bedeutet übersetzt „weiches Gras“, das hier einst in den Ebenen zwischen dem Berg Fuji und dem Meer wuchs. Ich vermute, dass dies nicht das erste Mal ist, dass Namen von Gegenständen, Gebäuden und Städten auf die natürliche Welt verweisen und etwas heraufbeschwören, das längst verschwunden ist. Der Beton der Gebäude reflektiert die Hitze und die Luft steht still, klebrig und heiß, zwischen den Straßentälern. Keine Vögel, nur das Zirpen von Grillen.

Ich bin neugierig zu erkunden, was das bedeutet. Ist es eine Sehnsucht? Ist es ein Versuch, eine lebendige Erinnerung an die Vergangenheit wieder zu erwecken? Was bedeutet es, im 21. Jahrhundert eine Betonstadt mit dreißig Millionen Einwohnern zu sehen und an das Wiegen der grünen Gräser zu denken?

Auf Hokusais Bild sitzen vier Personen in einem Boot auf dem Fluss. Ein Weidenbaum im Vordergrund raschelt im Wind. Es gibt einige Wellen, aber das Wasser ist nicht zu unruhig. Zwei der Männer sind mit dem Langleinenfischen beschäftigt, einer Technik, bei der viele Angelhaken an einer Hauptschnur ins Wasser gelassen werden. Die anderen beiden Männer auf dem Boot sind eleganter gekleidet; sie scheinen Städter zu sein, die sich für die Vergnüglichkeiten des Flusses interessieren. Am Ufer fischt eine weitere Person mit einer Angel. Einige Boote in der Ferne transportieren Waren. Es herrscht eine ruhige Atmosphäre.

Heutzutage ist der Miyato-Fluss nicht mehr zu finden. Früher war er Teil des Flussgebiets um Asakusa, heute ist er in den betonierten Sumida-Fluss übergegangen, der durch Tokio fließt. Auf dem Holzschnitt von Hokusai ist im Hintergrund eine Reihe von dreieckigen Häusern zu sehen; sie tauchen auch in einigen seiner anderen Werke auf, wo sie als Mifunezo oder shogunale Bootshäuser bezeichnet werden. Auf einer Karte der Denkmäler von Tokio finde ich, wo diese Bootshäuser einst standen. Obwohl ich den Standort des Gedenksteins auf meiner Karte eingezeichnet habe, ist er schwer zu finden. Ein winziger Park mit einer Toilette umfasst ihn, eine Treppe markiert den hohen Aufstieg vom Straßenniveau zum Flussufer. Ein obdachloser Mann schläft im Schatten der Bäume unter seinem Regenschirm. Es scheint ruhig zu sein.

Ich versuche, die genaue Perspektive zu finden, aus der Hokusai diese Szene gemalt hat, und überquere den Fluss auf die andere Seite. Nichts erinnert mehr an das ruhige und langsam fließende Wasser von vor zwei Jahrhunderten. Der Kanal ist heute zwischen Betonwällen eingefasst und eingeengt. Hochhäuser und Autobahnbrücken verstärken das Gefühl einer Landschaft, in der nur der Fluss unten und der Himmel oben belebt sind. Die Farbe des Flusses ist dunkel und ein wenig bedrohlich, während sich in den Wolken ein Sommergewitter zusammenbraut. Entlang des Ufers verläuft auf beiden Seiten ein Wanderweg, auf dem Menschen ihren Freizeitbeschäftigungen nachgehen. Ein Straßenarbeiter macht eine Pause und schreibt in ein Notizbuch. Eine ältere Dame sitzt da und entspannt sich. Ein paar Leute treiben Sport.

Ich laufe drei Kilometer am Flussufer entlang. Die Stadt versucht, mit Hinweisschildern auf bestimmte Hokusai-Holzschnitte, die hier inspiriert wurden, an die Vergangenheit zu erinnern. Eines zeigt eine Kiefer, die als guter Angelplatz bekannt war. In diesem Moment kommt ein Junge mit einer Angelrute vorbei. Er wirft den Haken ins Wasser und starrt in die leichten Wellen. „Kommst du oft hierher?“ frage ich. „Ja“, sagt er. „Ich habe hier einmal Seebrassen gefangen.“ Ein anderes Schild in der Nähe warnt Passanten davor, sich an Angelhaken zu verfangen, also muss es hier manchmal andere Angler geben.

Die einzige natürliche Sehenswürdigkeit hier sind einige Blumenbeete, die von der Stadt gepflegt werden. Dahinter befinden sich einige Bänke zum Sitzen. Ein weiterer Warnhinweis lautet hier: Achten Sie auf die vorbeilaufenden Jogger. Beim Versuch, aufzustehen, kann man sich den Kopf stoßen.

 

Hintergrundinfos

Hokusai hat Landschaften, Wanderwege, Wasserfälle, Handwerkstechniken, Geishas und vieles mehr im Holzschnitt abgebildet und die Illustrationen für ein Publikum aller Schichten erschwinglich gemacht. Einer seiner Drucke kostete so viel wie eine Schüssel Soba-Nudeln. Seine Bilder beeinflussten europäische Künstler wie Monet, Manet oder van Gogh. Ein Teil seines Erfolges soll auf der Einführung des neuen Farbpigments aus dem Westen namens Preußischblau beruhen, einer blauen Farbe mit besonderer Leuchtkraft, die es ihm ermöglichte, vor allem Wasser und Himmel in lebendiger Weise darzustellen.

 

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Bildquellen

  • Fishing_in_the_Miyato_River_–_Hokusai: Michaela Vieser
  • Travelogue #1 Bild2: Michaela Vieser
  • Travelogue #1 Bild3: Michaela Vieser
  • Travelogue #1 Bild4: Michaela Vieser
  • Travelogue #1 Bild5: Michaela Vieser
  • Travelogue #1 Bild6: Michaela Vieser