Reisebericht #2: Shimōsa Noboto/ 下総登戸

Ein Strand ist jetzt ein Hafen, ein Schrein beherbergt zwei Götter. Australischer Sand füllt die Leere.

Es war schwer, diesen Ort zu finden. Alles hat sich verändert.
Ich betrachte eine alte Karte, auf der die alten Namen der Präfekturen vor der Meiji-Zeit verzeichnet sind, der Zeit, als sich Japan dem Westen öffnete. Das meiste von dem, was früher Shimosa war, gehört heute zur Präfektur Chiba.

Der Name Chiba begegnete mir zum ersten Mal in William Gibsons legendärem Cyberpunk-Roman Neuromancer. Er spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft, in der die Menschen ihre Körper mit Implantaten, Nervenspleißungen und Mikrobionik verbessern. Chiba ist der Marktplatz für all diese Technologien, während die Bucht von Tokio den fließenden Hintergrund für diesen liminalen Raum bildet.

Vor Jahren besuchte ich meinen Freund Susumu und seine Familie in Chiba. Es war ein Hochhauskomplex aus der Mitte der siebziger Jahre. Vater, Mutter, Großmutter und Susumu lebten in einer winzigen Wohnung. Das erste, was er mir zeigte, war die Stelle auf dem Wohnblock, von der die Leute in die Tiefe sprangen. Alles in dieser Stadt fühlte sich entfremdet, leer und unbedeutend an. Abends gingen wir in ein riesiges heißes Badehaus und aßen Muscheln, die so frisch waren, dass sie sich noch auf dem Eis des Tellers bewegten.

Noboto Shimosa von Hokusai aus der Serie Chie no Umi

Der Holzschnitt von Hokusai zeigt eine idyllische Küste mit einer leicht hügeligen Küstenlinie. Die Ebbe ist eingetreten und der Sandstrand reicht weit ins Meer hinein. Das Wasser ist lebendig und blau, dank des neu eingeführten preußischblauen Pigments und des Geschicks der Druckwerkstatt, die Hokusais Skizzen in bleibende Juwelen verwandelte.
Auf dem Bild ist das Meer in der Bucht ruhig. Verschiedene Männer sind mit Shiohigari, dem Muschelgraben, beschäftigt. Asari, Bakagai, Rasierklingenmuscheln, wären ihre Ernte gewesen. Die Gezeitenzonen gehören zu den ertragreichsten Gebieten der Welt. Man braucht nur ein wenig zu buddeln, um eine Fülle von Nahrung zu finden.

Der Hafen von Chiba jetzt, mit der Muschel im Logo.
Der Hafen von Chiba jetzt, mit der Muschel im Logo.

Noboto gibt es nicht mehr. Es heißt jetzt Nobuto, da es seinen Namen in den 60er Jahren verlor, als die Küstenlinie von Chiba zugeschüttet und der Strand von Noboto in Japans größten Hafen verwandelt wurde. Es gibt noch einen Strand 4 km nördlich von dieser Küste im Inage Seaside Park, den längsten Sandstrand Japans. Der Sand wurde aus Australien importiert und soll ein Gefühl von Honolulu vermitteln. Bei meinem Besuch peitscht ein heftiger Wind die Wellen auf und die Wolken ziehen über die Bucht. In der Ferne bilden die Fabrikanlagen von Tokio eine graue Industriesilhouette.

Der Weg zum Schrein

Der Name Nobuto taucht nur an einem Schrein und einem Bahnhof an der Keio-Linie mit dem Namen Nishi-Nobuto, oder West-Nobuto, auf. Der Schrein ist nicht weit entfernt. Ich laufe eine zweispurige Straße entlang, vorbei an einem Hochzeitshotel, in dem mit Maronencreme gefüllte Herbsttorten serviert werden. Nach einem Kilometer landeinwärts steigt das Gelände an, und ich erklimme die Treppen zum Schrein. Die Stadt verschwindet. Zikaden singen und Krähen beobachten meine Schritte von alten Bäumen aus. Ich bin verwirrt, denn der Name Towatari-Schrein taucht auch auf Google Maps auf. In Wirklichkeit wurde der Towatari-Schrein, der in der Noboto-Bucht ins Wasser gebaut wurde, vor nicht allzu langer Zeit verlegt und scheint jetzt zusammen mit dem Nobuto-Schrein hier untergebracht zu sein. Hier sind zwei also zwei Heiligtümer von Orten, die es nicht mehr gibt. Ich sehe im Büro des Schreinpriesters ein Licht brennen und klopfe an die Schiebetür. Der alte Mann öffnet sie für mich und mustert mich von oben bis unten. „Warum gibt es hier jetzt zwei Schreine?“ frage ich. „Wie drücken die Leute jetzt ihre Dankbarkeit für den Fischfang und das Sammeln von Muscheln aus, um davon zu leben?“ „Die Dinge haben sich geändert.“ sagt der Priester. „Der Fischfang findet jetzt weit draußen auf dem Meer statt. Hier gibt es keine Küste mehr. Die Menschen arbeiten in Unternehmen. Sie arbeiten für den Handel und andere Geschäfte.“ „Weshalb kommen sie dann zum Schrein?“ „Sie sind jetzt für andere Dinge dankbar. Das Übliche, wissen Sie.“

Wofür die Menschen jetzt beten: Gute Gesundheit – aber in Form einer Fischgottheit.

Es gibt ein weiteres Bild des Ukiyoe-Künstlers Utagawa Toyokuni mit dem Titel „Am Strand von Shinagawa bei Ebbe“, das ungefähr aus der gleichen Zeit stammt. Männer und Frauen in kunstvollen Kimonos besuchen den Küstenstreifen, um sich an den Gezeiten zu erfreuen. In einigen dieser Grafiken ist eine leichte sexuelle Spannung zu erkennen, was darauf hindeutet, dass das Muschelsuchen für die Menschen in der Edo-Zeit ein unterhaltsamer Zeitvertreib gewesen sein könnte.
Shiohigari, das Muschelsuchen, ist heute in den späten Frühlings- und Sommermonaten eine beliebte Freizeitaktivität für Familien und Gruppen von Freunden in der Umgebung von Tokio. Einen Tag lang draußen sein, eine Art Schatzsuche.

 

Ein kleiner Wittling (Sillago parvisquamis). Einst war er in den Watten rund um das Dorf Urayasu weit verbreitet, doch heute gilt er in der Bucht von Tokio aufgrund der zunehmenden Urbanisierung und der Trockenlegung von Land als ausgestorben. Begegnung im Volksmuseum Urayasu in der Präfektur Chiba.

Skizze von Isaac Yuen

 

< Zurück zu allen Reiseberichten

Bildquellen

  • Travelogue#2 Bild1: Michaela Vieser
  • Travelogue#2 Bild3: Michaela Vieser
  • Travelogue#2 Bild4: Michaela Vieser
  • Travelogue#2 Bild6_2: Michaela Vieser
  • Travelogue#2 Bild6: Michaela Vieser
  • Travelogue#2 Bild5: Michaela Vieser
  • Travelogue#2 Bild7: Michaela Vieser