Reisebericht #3: Toyama Bay/ 富山湾

Auf der Suche nach einem Stamm anarchistischer Frauen stoße ich auf Glühwürmchen-Tintenfische.

Toyama-Bucht

Ich erhalte Mail vom Hokusai-Museum in Tokio. Dort hatte ich die Bitte hinterlassen, mich auf Forschungsmaterial zu seiner Chie no Umi-Serie hinzuweisen, da es so wenig akademische Abhandlungen dazu gibt. Sie schickten mir eine Liste von Links, aber nichts war hilfreich, nur sich wiederholende Bildbeschreibungen. Als ich die Bibliothekarin dort aufsuchte, hatte sie genau einen Artikel mit zwei Sätzen über diese Bilderserie gefunden. Hokusai schien dieses Projekt auf halbem Wege aufgegeben zu haben. Was ist mit den Frauen, die mit dem Meer arbeiten? Was ist mit der Algen- und Seetangernte? Was mit spirituellen Orten, die mit dem Wasser verbunden sind? Die Fischer mit ihren Angelruten sehen heroisch aus, muskulös, stark, gegen das Wetter und die Wellen kämpfend, in einer etwas testosterongesteuerten Harmonie mit dem Meer arbeitend. Aber was ist mit den anderen? Denen, die von der Schriftstellerin Ursula K. Le Guin in ihrer Carrier Bag Theorie verlangt werden? Diejenigen, die sammelten und pflegten, verwalteten und ernteten. Wo sind die ruhigen und nährenden Geschichten derjenigen, die daran denken, dass auch künftige Generationen vom Meer leben müssen? Ich notiere mir, dass ich mehr in diese Räume hineinspüren möchte, die Hokusai ausgelassen hat.

Die japanischen Alpen hinter der Bucht von Toyama

Wir kommen in Toyama City an. Ich möchte unbedingt die Ama-Taucherinnen auf Hegurojima besuchen, einer Insel vor der Noto-Halbinsel. Sie sind die letzten Überreste einer Kultur, die in Japan und Korea noch in kleinen Gebieten überlebt hat, in denen die Landschaft ihre traditionelle Lebensweise zulässt. Die UNO bezeichnet sie als einen uralten Volkstamm anarchistischer Frauen, die es verstanden, den Atem anzuhalten und auf dem Meeresboden auf Nahrungssuche zu gehen. Sie tauchen nach Muscheln und Abalonen, lesen den aufgewirbelten Sand auf dem Meeresgrund. Aber ihre Kultur altert schnell. Ihre Töchter ziehen es vor, in die Städte zu ziehen, wo sie die Vorzüge des modernen Lebens genießen können. Ich weiß, dass noch einige von ihnen auf Hegurojima leben. Es ist ein Ort weit weg von allem, mit genau einem Minshuku, einer einfachen “Unterkunft für das Volk”. Ich hatte den Ort von Berlin aus angerufen und eine alte Dame hatte geantwortet. Ich sagte ihr, dass ich gerne für zwei Nächte kommen würde, um mit den Ama zu sprechen. „Sie beenden ihre Saison am 1. Oktober, also kommen Sie bitte früher.“ Und so buchte ich die letzten beiden Tage im September bei ihr.

Toyama hat wie viele Küstenorte in Japan seine eigene, besondere Fischereikultur. Hier sorgt die Bucht für eine Fülle von lokalen Fischspezialitäten. In der japanischen Kultur werden Broschüren nicht müde, Landschaftsmerkmale zu beschreiben, die den Lebensraum für bestimmte essbare Arten bieten, die dann vermarktet werden und zu einem meibutsu werden – einem berühmten lokalen Gericht, in diesem Fall Fisch, den man vor der Abreise gekostet haben muss. Noch besser ist es, meibutsu tiefgefroren oder vakuumverpackt in schön gestalteten Schachteln zu kaufen, die niemals so schmecken werden wie die frisch verzehrten, die man aber als schale Erinnerung mit nach Hause nehmen kann. In der Bucht von Toyama informieren die Broschüren und NHK-Programme über den Küstenschelf, der direkt abfällt und den Meeresboden bis zu 1500 Meter tief absenkt. Durch diese Unterschiede in der Wassertemperatur können viele Fischarten gedeihen, die in anderen Küstengebieten nicht vorkommen würden. Außerdem wirkt die Form der Bucht wie ein Trichter. Fliegender Tintenfisch, Glühwürmchen-Tintenfisch, Winter-Gelbschwanz und viele mehr landen hier.

Eine Stunde nördlich von Toyama liegt das kleine Fischerdorf Ikuji mit einem anscheinend florierenden COOP. Eingebettet zwischen den weißen Bergen der nördlichen japanischen Alpen, mit dem einzigen japanischen Gletscher, der seine Flüsse und Bäche speist, ist Ikuji für sein unberührtes Quellwasser bekannt. In der ganzen Stadt Ikuji sprudeln 600 Brunnen mit einer interessanten Mischung aus Mineralien, jedes schmeckt anders und jeder Haushalt behauptet von sich, das leckerste zu haben. Der berühmteste Brunnen wurde von Matsuo Basho als der Shimizuan bezeichnet, der Rückzugsort des klaren Wassers.
Aber das Brunnenwasser wird auch noch für etwas anderes verwendet: zur Verarbeitung von Kombu, dem Riesenseetang.

Auf der anderen Straßenseite des COOP befindet sich Aimono, eine der ältesten Verarbeitungsstätten für Kombu in Japan. Die Manufaktur befindet sich in der Nähe eines Reisfeldes, in dem weiße Reiher Frösche fangen. Am Eingang befindet sich eine der berühmten Ikuji-Quellen, die in steinernen Kaskaden von einem Becken zum nächsten hinabfließt. Das Wasser wird in vier Schritten aufgeteilt: zum Trinken – oberstes Becken -, zum Waschen von Gemüse – nächstes Becken -, zum Waschen von Wäsche und schließlich zum Ablassen in die Flüsse, die durch die Stadt fließen.
Edo-san, eine Frau in rosa Arbeitskleidung und mit einem strahlenden Lächeln, führt uns durch den Ausstellungsraum.

Mehr am Donnerstag. Über Kombu, über einen Fischer mit einem merkwürdigen Instagram-Account und Anglern, die den Sonnenuntergang geniessen.

 

 

Ein Glühwürmchen-Tintenfisch (Watasenia scintillans). Sie sind eine lokale Delikatesse in der Präfektur Toyama und steigen im Frühjahr in großer Zahl aus tieferen Gewässern auf, um zu laichen. Begegnung in einer Broschüre des Ministeriums für Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei der Präfektur Toyama.

Skizze von Isaac Yuen

 

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Bildquellen

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