Der Hokusai Holzschnitt “Uraga in Sagami“ ist mein Lieblingsbild aus seiner Serie Chie no Umi. Wie alle Bilder dieses Zyklus zeigt es Männer beim Fischen. Die japanische Landschaft wird dabei zu einem weiteren Protagonisten. Hier, in Uraga, streckt sich die Küste gen Horizont, während die Landzunge, auf der die Fischer stehen, sich ihr zuneigt. Die Wasserfläche dazwischen nimmt die Form einer zinnfarbenen Mondsichel ein. Diese Kurven und Tangenten werden durch einen Fischer verstärkt, der seinen Körper nach hinten biegt und den Köder an seiner Angel überprüft. Er scheint einen weiteren Halbmondkörper zu erschaffen, diesmal einen etwas volleren, der im Raum zwischen Angel und Schnur erscheint. In der Bildmitte, zwischen Land und Meer, hält eine alleinstehende Steinlaterne die Stellung. Kraftvoll, bestimmt, eine solide Reflexion von Hokusai darüber, wie wir als Menschen gelernt haben, mit dem sich ständig verändernden Meer umzugehen und zu navigieren. Während Ebbe und Flut Land und Meer im Rhythmus des Mondes beleben, bleibt dieses von Menschenhand geschaffene Monument unerschütterlich und still.
Mir scheint als herrsche eine eskapistische Stimmung in dieser Szene von Fischern, die an einem Abend in der Bucht hier draußen sind und ihre Angeln tief über das Wasser hängen lassen. Es verbindet mich auf einer Niederfrequenz mit ihren täglichen Routinen und gewährt Einblick in die Geopsychologie des Edo-Japan vor mehr als 250 Jahren. Mit welchen Aufgaben verbrachten sie ihre Tage? Welche Gedanken schwebten durch ihr Unterbewusstsein, losgelassen durch den Akt des Stillsitzens?
Die Szene erinnert mich an die Männer in der Nähe meines Hauses an der Oder, die während der Pandemie stundenlang am Ufer standen und angelten. Wenn ich an ihnen vorbeiging und ihnen zur Begrüßung zunickte, ohne Worte zu wechseln, konnte ich nur vermuten, dass der Akt des Fischens ihnen in dieser Zeit der Nicht-Zeit einen gewissen Halt gab. Während die Gesellschaft eingesperrt war, erlaubte ihnen das Fischen zu entkommen, gab ihnen Raum zum Atmen, um allein zu sein und einer Tätigkeit nachzugehen, die vielleicht oder vielleicht auch nicht, mit einem Fang belohnt wurde.
In Uraga, während das Tageslicht zum Nachtschatten übergeht, schwindet die Erwartung, mit einem Fisch nach Hause zu kommen. Das Angeln wird zu einer Übung von etwas anderem: draußen sein, in der Nähe des Wassers, sich in die Wellen, die Stimmung, den Körper hineinzufühlen.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als dieses Bild entstand, gab es in Uraga noch reichlich Fische. Wahrscheinlich brauchte man die Ruten nur eine Weile über das Wasser zu halten, bis einer anbiss.
Als wir fast 200 Jahre nachdem Hokusai diese Szene entwarf an genau dieser Stelle ankommen, ist die Bucht noch immer mit Wasser gefüllt, aber ihre Ufer haben sich dramatisch verändert. In der Ferne erhebt sich die Stadt. Die Wasserfront von Tokio, bestehend aus Industrieschornsteinen und Hochhäusern, deren glitzernde Glasfronten wie ein silberner Saum die Bucht nach Norden hin abriegeln. Die Stadt pumpt unsichtbare Chemikalien und Abwässer hinein und verwandelt ihr Wasser zu einer Kloake, einem der am stärksten verschmutzten Gewässer des Landes. Tankerschiffe, die größer sind als Fabriken, bewegen sich durch unser Blickfeld, gefüllt mit Waren, die den Bedarf der unersättlichen Stadt decken.
Das Licht des Tages beginnt gerade zu dämmern. Aus dem nahegelegenen Dorf kommen Menschen für einen Abendspaziergang hierher. Verliebte, ein altes Paar, Hundebesitzer. Ein einsamer Mann sitzt am Rand, den Blick auf das stahlfarbene Wasser gerichtet. Jemand hat zwei Plastikspielzeugfiguren auf einem Felsen sitzen lassen, die auf das Meer hinausschauen, Avatare anderer, die diesen Moment für sich einfingen. Der Parkplatz direkt dahinter ist mit einer strengen Taktung versehen. Ab 20 Uhr werden die Gebühren billiger sein. Ein kleiner Lieferwagen hat hier bereits geparkt. Ein Mann sitzt hinter dem Lenkrad und schläft, immer wieder driftet er ab in seine Träume.
An diesem Tag besuchten wir auch eine andere Bucht, eine halbe Autostunde südlich von hier. Der japanische Klangkünstler Toshiya Tsunoda nahm dort seinen 2007 veröffentlichten Titel Maguchi Bay auf. Tsunoda befestigte sein Mikrofon und nahm die Klangkulisse auf. Dabei stellte er fest, dass es da eine tiefe Frequenz unter den normalen Umgebungsgeräuschen gab. Entnervt begann er darüber nachzudenken, woher diese tiefe Vibration stammte. Es war weder Wind noch ein entferntes Schiff, die diesen Hall auslösten. Ein Fischer gab ihm später die Antwort: „Es war die Vibration der Unterwasserströmungen, die auf die Stützen der Molen schlugen, wo sie auf den Meeresboden trafen. Die niedrige Frequenz, die ich beobachtet habe, ist ein wesentliches Merkmal der Maguchi-Bucht und hängt direkt mit der Struktur dieses Ortes zusammen. Sie wurde erst zu einer Fischfangbucht, als eine Reihe von Wellenbrechern gebaut wurden, um die schrecklichen Meeresströmungen zu beruhigen. Es gibt also eine lokale Geschichte, derer ich mir durch diese Frequenz erst bewusst wurde. Ich begann, den Ort zu lieben.“
Toshiya Tsunoda beschrieb diese Aufnahmen später als eine Betrachtung einer Landschaft mit den Ohren: „Wenn man genau darüber nachdenkt, bewegt sich die Dynamik eines Raumes immer. Wenn man, wie ich, ein Kontaktmikrofon auf den Boden oder die Wand eines Raumes legt, kann man die stehende Schwingung hören, die an diesem Ort fortbesteht. Es gibt einen komplexen Mechanismus, auch wenn die Frequenz einfach erscheint. Wahrscheinlich spielen alle Dinge – Material, Konstruktion, Temperatur, Feuchtigkeit und so weiter -, die den Ort betreffen, eine Rolle. Der Ort ist immer in Bewegung, wie eine schlafende Katze.“
Die steinerne Laterne in Uraga steht noch immer, obwohl sie heute größer ist als damals. Auf einem Schild wird erklärt, dass sie 1690 als Symbol der Tokugawa-Bakufu-Regierung errichtet wurde. Einige Jahrzehnte nachdem Hokusai diese “tomei”, dieses Turmlicht, gemalt hatte, leitete dieses Licht ein fremdes Schiff in die Bucht, das knapp an der Laterne vorbeifuhr und in Uraga ankerte. Das Schiff war schwarz und aus Stahl gefertigt. Sein Kommandant war Commander Perry. Er war gekommen, um Japan für den Westen zu öffnen. Von diesem Moment an strömte das Licht der westlichen Aufklärung nach Japan, während die alten Sitten langsam aber sicher in den Hintergrund sackten.
An diesem Abend geht die Sonne hinter uns unter und wirft ihre Strahlen auf die steinerne Laterne, die ihre Sandsteinstruktur von außen zum Glühen bringen. Wir versuchen, den genauen Ort zu finden, den Hokusai als Aussichtspunkt für sein Gemälde nutzte. Es muss im Süden des Ufers gewesen sein, wo jetzt eine im neobarocken Stil erbaute Villa nur Privilegierte einlädt. Der Pool im Inneren ist leer, und an der Tür gibt es kein Schild. Plötzlich beginnt sich das Wasser im Meer zu bewegen. Meeräschen springen in perfekten Bögen aus den leicht gekräuselten Wellen. Was sich darunter abspielt, wissen wir nicht. Der Shimanto ist ein geheimnisvoller Fluss.
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