Sechs der zehn Farbholzschnitte aus Hokusais Chie no Umi-Serie sind an einem Fluss gelegen. Netzfischerei, Fackelfischerei, Korbfischerei, Fliegenfischerei, Seilfischerei und wartende Netze – sie alle zeigen Männer, die damit beschäftigt sind, die Reichhaltigkeit der Wasserläufe auszuschöpfen.
Es fiel mir schwer, ihm dorthin zu folgen.
Seine Flüsse zu finden oder die genauen Standorte zu bestimmen, von denen aus er sie malte, wurde zu einem Stück Detektivarbeit. Ich sah mir alte Karten an. Hielt Rücksprache mit Kunsthistorikern. Schlug nach in japanischen Enzyklopädien. Einige seiner Flüsse gibt es heute schlicht nicht mehr, andere wurden durch Dämme und Kanalisierung verändert. Wenn man heute an ihren Ufern steht, erinnert nichts mehr an die blauen Wellen und die ruhigen Landschaften der ursprünglichen Hokusai-Grafiken.
In einer Broschüre der Japanese River Association wird darauf hingewiesen, dass Japans Flüsse im Vergleich zu Flüssen in anderen Teilen der Welt eher kurz sind und direkt vom Gebirge ins Meer fließen. Der Verband zeigt eine Karte, auf der die Gebiete markiert sind, in denen es in einem Zeitraum von zehn Jahren mehr als fünf schwere Überschwemmungen gab. Die Hälfte der Karte ist rot eingefärbt. Taifune und seismische Bewegungen verstärken dazu regelmäßig die Gefahr von Überschwemmungen und Erdrutschen.
„Japanische Flüsse sind wie Wasserfälle“, sagte der niederländische Ingenieur Johannes de Rijke, der während der Meiji-Zeit beauftragt wurde, die japanische Landschaft zu verändern, da sich ein Großteil der Bevölkerung und des Besitzes in den gefährdeten Schwemmlandebenen befindet. Infolgedessen wurden die meisten Flüsse gezähmt.
Viele der von uns besuchten Flussufer waren flach und unbewohnt. Wir wanderten einen Tag entlang des Tone-Flusses. Krähen und Milane kreisten in der Luft, die von Insekten surrte. Wir kamen an einer Müllverbrennungsanlage und einigen Baseballfeldern vorbei und sahen in der Ferne die Stadt Kashiwa und eine Lebensmittelproduktionsanlage. Entlang des Flusses verlief ein Fahrradweg, der von einer Handvoll Jogger und Radfahrer genutzt wurde. Das unmittelbare Ufer war zugewachsen, und es gab keinen Zugang zum Wasser selbst.
An anderen Flüssen, über die ich in diesem Reisebericht geschrieben habe, gibt es einen solchen Grüngürtel nicht mehr. Die Flüsse in Tokio verlaufen zwischen und unter den Hochhäusern und Autobahnen. Andere sind zu Behältern für flüssige Industrieabfälle geworden. „Dort, wo ich aufgewachsen bin, würde niemand die Fische aus den Flüssen essen“, sagte mir ein Regierungsbeamter in einem Interview.
Also suchten wir in Japan nach natürlichen Flüssen, die nicht eingedämmt sind, die nicht manipuliert wurden. Wir wollten dort die Fülle des Lebens, die Artenvielfalt, die ein Fluss ermöglicht, den Lebensraum, den er bietet, hören und spüren. Es gibt in ganz Japan nur einen solchen Fluss: den Shimanto-Fluss im äußersten Süden der Insel Shikoku.
Nachdem wir mit der Fähre von Wakayama auf Shikoku landeten, dauerte die Fahrt zum Shimanto-Fluss zwei Tage. Ein Gebirgszug trennt den Norden und Süden der Insel. Die Shimanto-Region ist in jeder Hinsicht abgelegen: Der japanische Architekt Ando Tadao sagte, es sei für ihn einfacher, eine Baustelle in Paris zu übersehen als auf Shikoku. Die Reisezeit in die französische Hauptstadt sei so viel kürzer.
Eine Attraktion der Stadt Shimanto ist ein Ökopark mit Libellen. 90 Arten gibt es hier, mehr als an jedem anderen Ort in Japan. Einst waren sie in der Landschaft der Satoyama allgegenwärtig, schwirrten über Reisfeldern und Bewässerungsteichen und dienten der Schädlingsbekämpfung. Sie galten immer als ein Zeichen für eine gesunde Biosphäre. Im Tombo-Park in Shimanto füllen blauäugige oder gelb geflügelte Arten die Zwischenräume.
Ein Eintrag in meinem Tagebuch:
„In Shimanto zu sein, bedeutet, den Fluss zu betreten. Es ist eine alte Art von Fluss, eine Verbindung zu diesem Gewässer stellt sich sofort ein. Die Frau im Fremdenverkehrsbüro der Stadt Shimanto hatte auf meine Frage, wo der Fluss am schönsten ist, geantwortet: Uchi no kawa ha fushigi na kawa nan desu. Doko ni ittemo kirei desu. Der Fluss hier ist geheimnisvoll. Wo immer du hingehst, wird er schön sein.“
Die andere Sehenswürdigkeit sind die Chinkabashi-Brücken, die so genannten Sink- oder Tauchbrücken, über den Shimanto-Fluss. Sie wurden von einfachen Arbeitern mit den verfügbaren Materialien gebaut. Um sie länger zu erhalten, wurden keine Geländer angebracht, so dass bei Hochwasser das Wasser die Brücke passieren konnte und sie unbeschädigt ließ. Später wurden sie aus Zement gefertigt, einfache Übergänge, die dazu einladen, darauf oder darunter zu sitzen. Sie sind zu einem merkwürdigen Wahrzeichen geworden, einem Relikt aus einer Zeit, in der man mit dem auskommen musste, was man hatte um den Alltag nicht nur zu bewältigen, sondern mit dem zu bestehen, was man baute.
Hokusais Serie Chie no Umi wurde nie vollendet, und wir können nur spekulieren, welche anderen Sehenswürdigkeiten in der Nähe von Gewässern der Künstler mit uns geteilt hätte, wenn er sie fortgesetzt hätte. Japan war damals eine geschlossene Nation, in der Reisen in die Welt jenseits der Inseln vom Bakufu, der Militärregierung, streng verboten waren.
Infolgedessen richtete sich das Interesse aller nach innen. Statt zu einem unterdrückten Land zu werden, wurden Kunst, Philosophie und Mode von einem kreativen Funken durchdrungen, der daraus erwuchs, dass man sich mit dem auseinandersetzte, was vorhanden war, und es in seinem ganzen Ausmaß erkundete.
Wir beginnen erst langsam, die Dynamik des Edo-Japans zu verstehen, das mehr als 250 Jahre lang ein geschlossenes Land blieb. Es entwickelte sich eine Nation, die kulturell und wirtschaftlich fast ausschließlich auf sich selbst angewiesen war. In letzter Zeit gibt es immer mehr wissenschaftliche Arbeiten, die die sozioökonomischen Auswirkungen dieser abgeschotteten Periode unter ökologischen Gesichtspunkten untersuchen:
Wenn alle Materialien aus heimischen Quellen erzeugt werden müssen, wird die Nutzung der natürlichen Ressourcen extrem wichtig. Infolgedessen wurde eine frühe Version dessen, was wir heute als Kreislaufwirtschaft bezeichnen, weithin praktiziert. Waren und Werkzeuge wurden so konzipiert, dass sie nach Ablauf ihres Lebenszyklus leicht repariert oder sogar zu neuen Werkzeugen umgebaut werden konnten. Es entstand zum Beispiel der Beruf des Papierschirmreparateurs. Getas, die klappernden Sandalen, die wohl den Beat der Geräuschkulisse der Edo-Zeit bildeten, gelten noch heute als eines der perfektesten Alltagsprodukte: Ihre Gebrauchstauglichkeit, Langlebigkeit und Reparierbarkeit ist mit nichts zu vergleichen, was wir heute herstellen. Kimonos konnten problemlos zu neuen Textilien vernäht werden, während das Reparieren oder Ausbessern zerbrochener Waren zu einem ästhetischen Ideal wurde, wie bei der Kintsugi-Methode mit zerbrochenen Töpferwaren oder den Kogin-Sashiko-Nähten in Nordjapan.
Unter dieser Prämisse werden die Chinkabashi-Brücken noch bemerkenswerter. Sie stehen für eine Architektur, die sich der Landschaft anpasst, statt sich ihr aufzuzwingen. Langlebig, widerstandsfähig und leicht zu reparieren, entwickeln sie im Laufe der Jahre ihren eigenen Charme, indem sie die Geschichten der Menschen sammeln, die die schmale Asphaltstrecke überqueren und passieren. Jede Begegnung mit einem anderen Menschen auf der Brücke ist wie eine Lektion in Demut.
Der Shimanto ist ein geheimnisvoller Fluss. Er ist schön, egal von welcher Brück man auf ihn blickt.
Eine Kranichflussgarnele (Macrobrachium formosense). Eine Süßwasserart, die zusammen mit zwei anderen Arten der gleichen Gattung (M. japonicum und M. nipponense) im Shimanto-Fluss lebt. Hauptmerkmal ist der verlängerte zweite Satz von Vorderbeinen, die in Zangen enden. Begegnet in einem Izakaya-Restaurant in Shimanto-shi, Präfektur Kōchi, wo sie üblicherweise als Bar-Snacks serviert werden.
Skizze von Isaac Yuen